Seien wir mal ehrlich, wir sportaffinen Menschen leben schon oft in einer sozialen Blase. Wir bewegen uns selbst gerne und haben meist auch viele Freunde, die gerne Sport treiben – der Großteil zudem im gleichen Alter. Und das ist auch gut so, denn gemeinsame Interessen verbinden und zu zweit oder in einer Gruppe ist man fürs Schwitzen gleich doppelt so motiviert. Auch mein Freundeskreis besteht fast ausschließlich aus Menschen, die hobbymäßig unterschiedlichste Sportarten ausüben.

Für mich als Fitness Trainerin ist es jedoch ein großes Bedürfnis, mit gerade jenen Menschen zu arbeiten, die Bewegung noch kaum bis gar nicht in ihr Leben integrieren konnten. Ich versuche daher, meine Peer Group immer wieder bewusst zu verlassen. Seit September 2017 halte ich beispielsweise wöchentlich einen Vortrag inkl. Workshop zum Thema „Krafttraining“ bei der „Agens GmbH“, einem Partnerunternehmen des „Arbeitsmarktservice Österreich“, das viele Langzeitarbeitslose betreut.

Menschen ab 60 können durch Sport viele Alterungs-Beschwerden verlangsamen

Meine Kursteilnehmer sind dort im Schnitt 50 Jahre alt und kennen gezielte Bewegung meist nur vom Hörensagen. Die Gründe dafür sind unterschiedlich und höchst individuell, das kennt ja jeder von sich selbst. Das Budget für einen Fitnessclub wird lieber anderweitig investiert, Kinder oder Familie lassen wenig Zeit für einen selbst und der große Schweinehund müsste zusätzlich noch überwunden werden.

Genau solche Menschen sind es aber, die von Bewegung in meinen Augen am meisten profitieren! Denn ab ca. dem 60 Lebensjahr werden üblicherweise altersbedingte Einschränkungen spürbar, die mit systematischem Sport bis ins hohe Alter aufgeschoben werden könnten.

Im Juni 2017 durfte ich im Auftrag der deutschen Fitness-Zeitschrift „shape UP“ ein sehr aufschlussreiches Interview mit der Molekularbiologin Assoz.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Barbara Wessner führen. Seit 2011 beschäftigt sich ein großes Forschungsprojekt der Universität Wien damit, welche Auswirkungen der Abfall der physischen Leistungsfähigkeit im Alter hat und was man dagegen tun kann. Dr. Wessner ist stellvertretende wissenschaftliche Leiterin der geförderten Plattform.

Ältere Herren radeln um einen See

Diagnose „Muskelschwund“ trifft heute 50 Prozent aller über 80-Jährigen

Im Fokus der interdisziplinären Studie, genannt „Active Ageing“, stand Sarkopenie – der medizinische Ausdruck für den übermäßigen Verlust von Muskelmasse und Muskelfunktion im Alter. Tatsächlich beginnt der Körper ab dem 30. Lebensjahr Muskulatur abzubauen, ab 60 beschleunigt sich der Verlust der Muskelkraft auf rund 1 Prozent Abnahme pro Jahr. Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung und entzündliche Krankheiten wie Arthrose oder Rheuma können den fortschreitenden Abbau zusätzlich forcieren.

Die Diagnose Sarkopenie, also Muskelschwund in pathologischer Form, trifft heute bereits zehn Prozent der westlichen Bevölkerung über 60, bei Personen ab 80 sind es fast 50 Prozent. Für die Patienten, die dann beispielsweise nicht mehr alleine aufstehen können, ist die Lebensqualität drastisch eingeschränkt.

Geh-Geschwindigkeiten unter 0,8 Metern pro Sekunde sind bedenklich

Rentner marschiert mit Nordic-Walking-Stöcken

Erst in den vergangenen Jahren wurde Sarkopenie als gesellschaftlich relevantes Krankheitsbild deklariert und spezifische Diagnosekriterien entwickelt.

So zeugt beispielsweise ein Gehgeschwindigkeitstest über 4 Meter, der mit weniger als 0,8 Metern pro Sekunde absolviert wird, von einer eingeschränkten Muskelfunktion. Auch Gleichgewichtstests, Aufstehtests sowie eine Bioimpedanz-Messung (misst Verhältnis von Knochen, Muskeln und Fettgewebe) können heute Aufschluss über markanten Muskelabbau geben.

Das Gesundheitssystem nimmt sich inzwischen der Problematik an – die Aussicht, ab 65 fremde Hilfe zu benötigen und trotzdem 85 Jahre und älter werden, ist schließlich weder für Patienten noch für den Staat wünschenswert. Die Forschungsergebnisse der Active Ageing-Plattform haben einen wichtigen Beitrag zu diesem internationalen Umdenkprozess geliefert.

Können ältere Menschen durch Krafttraining länger mobil bleiben?

„Die Antwort lautet ja“, sagt die Molekularbiologin und stellvertretende Studienleiterin Assoz.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Barbara Wessner. „Eine ganz wesentliche Erkenntnis war, dass durch Krafttraining in jedem Alter eine Verbesserung sowohl der Muskelkraft, als auch der Muskelfunktion möglich ist.“

Mit 120 Bewohnern von Pensionisten-Heimen im Alter von 65 bis 97 Jahren wurde 18 Monate lang mit Therabändern progressiv trainiert – Anfangs im Kraftausdauerbereich, später hypertroph (intensive 8-12 Wiederholungen). Und die Ergebnisse fielen überraschend positiv aus.

Teilnehmer, die zu Beginn der Studie kaum ohne Hilfe aus einem Sessel aufstehen konnten, schafften dies nach sechs Monaten wieder selbstständig. „Das ist ein erstaunlicher Zuwachs von 20 bis 30 Prozent in der Muskelfunktion“, so Wessner. Die reine Muskelkraft, also gegen wieviel Widerstand man beispielsweise das Bein beugen und strecken kann, stieg um 14 Prozent.

Assoz.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Barbara Wessner vom Zentrum für Sportwissenschaft Wien Schmelz im Interview mit Sportjournalistin Bernadette Hörner

Fotocredit: filmkraft.wien

Myokine – Körpereigene „Muskelapotheke“ wird durch Bewegung freigesetzt

Schwindende Muskelkraft hat jedoch noch viel weitreichendere Auswirkungen auf den Körper, als bislang angenommen. „Unsere Studie konnte zeigen, dass der Muskel nicht nur für Bewegung zuständig ist, sondern eigentlich ein endokrines Organ ist. Wie Drüsengewebe bildet der Muskel bei Bewegung hormonähnliche Stoffe, sogenannte Myokine, die stimulierend auf zum Beispiel Nervenzellen, Immunzellen oder Leberzellen wirken.“

So wird etwa die Gehirnfunktion verbessert, indem Nervenzellen dazu angeregt werden, sich stärker zu vernetzen. Auch die Tumorbildung und das Krebsrisiko gehen zurück, der Blutzuckerspiegel stabilisiert sich (Zellen in Darm und Bauchspeicheldrüse werden aktiviert, was einen positiven Effekt bei Diabetes hat – den genauen Wirkmechanismus könnt ihr in meinem Bericht „Warum Sport gegen Diabetes hilft“ nachlesen!). Körpereigene Entzündungshemmer werden freigesetzt und Immunerkrankungen wie Herz-Kreislaufprobleme werden verzögert oder sogar verhindert. Verkümmert der Muskel, verkümmern auch diese Regulationsmechanismen.

Ausdauer- und Krafttraining bis ins hohe Alter wichtig

Was kann man nun selbst gegen Muskelschwund tun, präventiv oder bei bereits bestehenden Beschwerden? „Reiner Ausdauersport ist leider zu wenig“, so die Molekularbiologin. Neben 150 bis 300 Minuten moderatem Herz-Kreislauftraining sollte jeder Mensch generell zweimal pro Woche die Körperkraft trainieren.

„Nach einer Eingewöhnungsphase empfehlen wir die Intensität langsam zu steigern, bis letztlich acht bis zwölf Wiederholungen pro Trainingssatz möglich sind“, so Wessner. Denn nur im Hypertrophie-Bereich – wenn das Gewicht so gewählt wird, dass lediglich 8-12 Wiederholungen möglich sind – hat man besonders gute Effekte auf die Muskelmasse und die Muskelfunktion. „Die wichtigsten Muskelgruppen wie Oberschenkel, Bauch, Brust und Rücken sollten mit spürbarer Anstrengung belastet werden“, so Wessner.

Auch eine vollwertige Ernährung mit ausreichend essentiellen Aminosäuren ist ein wichtiger Mosaikstein. Der Eiweißbedarf für Menschen ab dem 60. Lebensjahr liegt bei 1,0 bis 1,2 Gramm pro Kilo Körpergewicht am Tag. Besteht ein Vitamin D-Mangel, kann dieser über die Ernährung, mehr Sonnenlicht oder gegebenenfalls Supplemente ausgeglichen werden. Studien belegen nämlich auch einen Zusammenhang zwischen niedrigem Vitamin D-Spiegel und verminderter Muskelkraft.

Kurzhanteln geordnet nach Gewicht

Bis zum 90. Lebensjahr könnte der Bewegungsapparat weitgehend einschränkungsfrei funktionieren

Aus dem Gespräch mit Frau Dr. Wessner habe ich persönlich viel Motivation und positive Impulse mitgenommen. Für einen aktiven Lebensstil ist es nie zu spät! Egal, wann man mit Sport beginnt – selbst mit 75 Jahren kann man durch vernünftiges Training noch ein höheres Kraftniveau erreichen, als man untrainiert mit Dreißig hatte – davon ist beispielsweise der Biomechaniker Axel Gottlob in seinem Buch „Differenziertes Krafttraining“ überzeugt. Der Bewegungsapparat könnte durch korrekte Kräftigung bis etwa zum 90. Lebensjahr (+/- 10 Jahre) weitgehend einschränkungsfrei funktionieren.

Und genau diese Einstellung möchte ich meinen Agens-Teilnehmern, und auch euch, mit diesem Beitrag mitgeben. Es ist absolut nie zu spät, mehr Bewegung in den Alltag zu integrieren!!

Sport kann in jedem Alter und in jeder Lebensphase die Lebensqualität entscheidend verbessern und viele selbst chronische Gesundheitsprobleme minimieren. Ich habe selbst Hashimoto, eine Autoimmun-Krankheit, und meine Symptome sind viel stärker ausgeprägt, wenn ich mal länger keinen Sport mache. (Warum das so ist, und alles über meine Symptome und Krankengeschichte, habe ich im Artikel „Mein Leben mit Hashimoto“ sehr ausführlich zusammengefasst!) Durch „Active Ageing“ konnte das einmal mehr bewiesen werden.

Assoz.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Barbara Wessner

Molekularbiologin Assoz.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Barbara Wessner im Portrait

Fotocredit: Foto Wilke

lehrt und forscht am Zentrum für Sportwissenschaft und Universitätssport der Universität Wien.

Ihre Schwerpunkte: Muskelphysiologie, Sportimmunologie, Genetik sportlicher Leistungsfähigkeit und Biomarker-Discovery.

Vielen Dank an dieser Stelle für das OK zur Veröffentlichung des Interviews!

Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer spricht im Anti-Stress-Interveiw über einfache Methoden, mit denen jeder selbst Burnout verhindern kann

Mein Tipp:

Vielleicht interessiert dich auch der Talk zum Thema „Frauen haben anders Stress als Männer“, den ich mit der Gender-Medizinerin Prof. Dr. Kautzky Willer geführt habe?

Die renommierte Spezialistin gibt dort Einblicke in die aktuelle Stress-Forschung und erklärt, warum sich Stress-Symptome bei Frauen und Männern unterschiedlich äußern, was das für Folgen im Alltag hat und wie man Burnout frühzeitig entgegenwirken kann.

Hier gehts zum Bericht!